February 11, 2023
9 Minuten

Führen aus dem Home Office

Ein Szenario, von dem wir vor einigen Monaten noch dachten, dass es nie im Leben möglich gewesen wäre: Ansammlungen von mehr als 5 Personen sind in der Schweiz untersagt. Die Grossraumbüros sind leer. Alle arbeiten und kommunizieren von Zuhause aus. Covid-19 hat die Welt auf den Kopf gestellt. Die Art und Weise wie wir miteinander umgehen, hat sich in Zeiten des “Social Distancing” radikal verändert. Das trifft nicht nur unser privates Umfeld. Nein, auch die Arbeitswelt musste sich innert kürzester Zeit an die neuen Rahmenbedingungen gewöhnen. Die Karten der Zusammenarbeit wurden neu gemischt. Das heisst wiederum auch, dass wir nicht gleich führen können, wie wir es in Zeiten vor Corona noch taten.

In diesem Artikel geht es mir um den Austausch und das Teilen von Erfahrungswissen. Ich habe in den letzten Wochen dazu viele inspirierende Gespräche auf Augenhöhe geführt, so u. a. mit Jose Piening, Kevin Bucher, Hannes Burkhalter und Daniel Ledermann. Es handelt sich hier um eine Momentaufnahme, denn noch weiss niemand, wann und wie genau die Corona-Krise enden wird. Und so freue ich mich auch auf Eure Anregungen und Inputs zum Thema «Führen in einer digitalen Welt».

1. Orientierung und Ausrichtung deines Teams werden in stürmischen Gewässer umso wichtiger.

Die Analogie gefällt mir sehr. Das Team und du selbst befinden sich alle im selben Boot. Der Sturm, Covid-19, kommt auf uns zu. Nun liegt es in unserer Verantwortung als Steuerfrau/-mann das Boot so auszurichten, dass wir nicht nur heil aus diesem Sturm hinauskommen können, sondern wenn möglich auch einen ruhigen blauen Ozean an neuen Opportunitäten ansteuern können. Dafür bedarf es nicht nur eines guten Kurses. Vielmehr muss die Besatzung auch verstehen, wie:

a) der Sturm genau aussieht und was das für den ursprünglichen Kurs bedeutet,
b) was ihre/seine neue Aufgabe auf dem Boot ist, und
c) inwiefern das Boot nun verändert werden muss, um die Reise zu überstehen.

Eine Originalzeichnung von mir mit der Realisation, dass ich wohl kein Picasso bin.

Doch wie sieht die Situation in vielen Unternehmen konkret aus? Oft wissen die Mitarbeitenden nicht, was die neuen Rahmenbedingungen nun konkret für die Firma und für ihre Stelle bedeuten. Sie wissen nicht welche Auswirkungen das ganze auf die ursprünglich definierten Ziele und Gefässe im Unternehmen hat. Häufig arbeiten die Mitarbeitenden dann an Tasks, die nicht auf den “neuen Kurs” einzahlen. Da wir alle “remote” arbeiten, wissen wir nicht woran die anderen Besatzungsmitgliedern arbeiten und ob alle das gleiche Verständnis und Bild vom neuen Kurs haben.

Die Frage stellt sich: Wie kann ich als Steuerfrau/-mann nun mein Boot in den blauen Ozean bringen, wenn die Besatzung nicht dasselbe Ziel vor Augen hat?

  • Es braucht eine klare Ausrichtung des Unternehmens, Bereichs oder des Projekts. Wenn sich die Rahmenbedingungen geändert haben, müssen wir auch willig sein unseren Kurs zu ändern. Es ist nicht gesund an 5-Jahresplänen festzuhalten, die von einer Welt ausgehen, die es so nicht mehr gibt. Welche Ziele verfolgen wir in dieser Zeit und worauf setzen wir unseren Fokus? Wir müssen uns also damit auseinander setzen, was wir bewusst tun und was wir bewusst nicht tun. Das heisst nicht, das eine komplette Neuorientierung erfolgen muss. Manchmal reicht ein Re-priorisieren.
  • Es braucht gemeinsame Bilder über die Ziele. Ein etwas schwieriges Unterfangen in der digitalen Welt. Normalerweise arbeite ich bei INNOArchitects an grossen physischen Wänden. Ein Konstrukt an verschiedenen Bildern, die ich mit den Kunden systematisch zu einem gemeinsamen Bild verdichten kann, dass den gewünschten Fokus auf die Ziele bringen soll. Die Gefahr, dass alle Mitarbeitenden ein anderes Bild vor Augen haben, ist virtuell genau so präsent, wie in der physischen Welt. Anhand unserer Analogie kann man sich das so vorstellen, als ob alle Besatzungsmitglieder vom selben Kurs sprechen, aber alle in eine andere Richtung rudern würden. Um gemeinsame Bilder zu schaffen, greifen die Interviewpartner und Ich selbst auf digitale Tools wie Miro oder Mural zurück, um auch von zu Hause aus an einer gemeinsamen (digitalen) Wand zu arbeiten und einen gemeinsamen Kurs für das Team zu schaffen.
  • Es braucht neue Team-Gefässe. Wir verhalten uns anders, als wir es in der physischen Welt tun. Wir können nicht erwarten, dass wir mit demselben Boot ans Ziel kommen, wenn sich die Umstände geändert haben. Deswegen müssen wir auch bereit sein, Bestehendes zu hinterfragen und unser Boot, unsere Gefässe und Meeting-Struktur, gegebenenfalls zu verändern. In der digitalen Welt haben wir die Tendenz bei unseren Konversationen lediglich auf der Sachebene zu bleiben. Das heisst, wir diskutieren darüber was wir tun werden, was die nächsten Schritte sind und was der konkrete Inhalt der Arbeit ist. Im besten Fall, diskutieren wir auch darüber, warum die Ziele nun für alle wichtig sind.

Language of Spaces — die verschiedenen Arten von Team-Gefässen in einem Top-Team.

Wenn wir uns das Bild anschauen, sehen wir, dass wir uns lediglich im operativen Raum bewegen. Wir sprechen vor allem über das WAS. Manchmal wird im Steuerungsraum auch besprochen, WIE wir unsere gemeinsamen Ziele verfolgen und uns organisieren. Wir bewegen uns, vor allem in dieser digitalen Zeit, lediglich im Kontext der Organisation. Was jedoch praktisch immer wegfällt, ist der persönliche Kontext. Diesen zu simulieren (in physischen Kontexten, die Team-Events, gemeinsame Feierabend-Apéros, informelle 1-zu-1 Gesprächen) ist eminent wichtig um ein Team zu formen, dass auch wirklich gemeinsam performen kann.

Jede einzelne Person in deinem Team befindet sich momentan in einem individuellen Veränderungsprozess, den sie meistern müssen, damit sie optimal funktionieren können. Anhand unserer Analogie: Wie soll die Besatzung zusammenarbeiten, wenn das Boot nicht mehr für die neuen Wetterverhältnisse gerüstet ist? Diese Herausforderung sehen alle einstimmig als noch nicht optimal gelöst an. Wie bringen wir den menschlichen Aspekt in die digitale Zusammenarbeit? Digitale Feierabend-Apéros stellen erste Versuche dar, sind aber bei weitem noch nicht effektiv genug. Oft gleichen diese Versuche einer Plenums-Diskussion. 1-zu-1 Gespräche, Spazieren gehen auf Abstand, sind weitere Möglichkeiten um dem Beziehungs- und Individual-Raum Rechnung zu tragen. Eine optimale Lösung gibt es aber noch nicht.

2. Erhöhte Unsicherheit bedarf einer klareren Kommunikation und radikaler Transparenz.

Ich glaube ich spreche für jeden von uns, wenn ich sage, dass ich diese Erkenntnis eigentlich erwartet habe. Vielmehr bin ich überrascht, wie wenig es in den KMU’s und Corporates heutzutage gelebt wird. So wissen viele Mitarbeiter aus anderen Unternehmen, mit denen Ich oder meine Interview-Partner gesprochen haben, häufig nicht, wie es ums Unternehmen steht oder was das genau für ihren Job bedeutet. Ausserdem bietet sich ihnen nicht immer die Möglichkeit an, ihre offenen Fragen anzubringen.

“Wenn die Mitarbeitenden nicht verstehen, wie es ums Unternehmen steht, wohin es gehen sollte und was das konkret für sie als Individuum bedeutet, wie können wir dann erwarten, dass alle am selben Strick ziehen und Einsatz zeigen?” — Hannes Burkhalter, Senior Partner, INNOArchitects AG

Konkret heisst das: Wir müssen die Mitarbeitenden nicht nur darüber informieren, was wir als Unternehmen tun werden, sondern auch WARUM wir es tun. Das bedeutet aber auch, dass wir:

  • Klartext über die aktuelle Situation und der finanziellen Gesundheit unseres Unternehmens sprechen. Das heisst nicht das jeder Mitarbeiter gleich einen finanziellen Report erhalten muss. Vielmehr ist es wichtig mit einigen wenigen Kernzahlen über die finanzielle Gesundheit des Unternehmens, Bereichs oder Projekts Auskunft zu geben und sich die Zeit zu nehmen um die individuellen Folgen für jeden einzelnen zu besprechen. Ein lückenlose Transparenz ist wichtig, ansonsten verhält es sich so, als würden wir jemanden darum bitten uns zu helfen, ohne zuvor mitzuteilen wie es uns überhaupt geht.
  • Beginnen zu kommunizieren statt zu informieren. Die Hauptaufgabe eines Leaders war schon immer zu kommunizieren. Diese Tätigkeit erhält im Kontext der digitalen Welt jedoch eine grössere Bedeutung. Das heisst wir müssen wegkommen von den monatlichen unpersönlichen “Communiqués”. Vielmehr werden Weeklys und Stand-ups in der Form von Video-Konferenzen wichtiger, um die Informationen zu übermitteln. Der Unterschied liegt darin, dass wir nicht einseitig kommunizieren, sondern eine zweiseitige Kommunikation zulassen: Die Mitarbeiter haben die Möglichkeit Fragen zu stellen. Wir hören also auf zu informieren und beginnen zu kommunizieren.
  • Uns die Zeit nehmen, persönlich mit unseren Mitarbeitenden zu sprechen. Häufig gehen wir falsch von der Annahme aus, dass alle vom selben sprechen oder “doch eigentlich wissen müssten”, was gerade läuft und was das für sie bedeutet. Dem Mitarbeitenden nicht nur aufzuzeigen was seine/ihre konkrete Rolle in dem ganzen Spiel ist, sondern auch zu spüren, wie das für sie oder ihn ist, ist in solch unsicheren Zeiten essentiell. Hard Skills hin oder her. Schlussendlich sind wir alles nur Menschen, die in Unsicherheit nach Halt und Sicherheit suchen. Ein klares gegenseitiges Verständnis über die neue Rolle und deren Auswirkungen auf uns selbst, bietet uns diese Sicherheit.Was genau es dafür braucht, ist von Mitarbeiter zu Mitarbeiter unterschiedlich.

3. Effizienz der Mitarbeiter kann durch neue Spielregeln sogar höher sein.

Ich habe die Aufgabe der Führungskraft immer anhand des Zitats von Aristoteles verglichen:

“Das Ganze ist grösser als die Summe seiner Einzelteile” — Aristoteles

Eine gute Führungskraft schafft es, sein Team so zusammenspielen zu lassen, das es mehr erreicht, als wenn alle alleine die Ziele verfolgen würden. Mit einem gemeinsamen Boot und einem gut eingespielten Team sollten wir es also in der Theorie schaffen weiter zu segeln, als wenn alle ein eigenes Boot hätten.

Photo by Quino Al on Unsplash

Doch häufig sieht die Realität folgendermassen aus: Man huscht von Video-Call zu Video-Call, befindet sich stundenlang in digitalen Abstimmungen und Sitzungen, in denen man häufig nicht wirklich gebraucht wird. Und am Ende des Tages bleibt nicht mehr viel Zeit für die eigentliche Arbeit.

Dieses Problem ist nicht neu und es bestehen auch in der physischen Welt schon Lösungen dafür, agiler zu werden. Das Stichwort liegt hier auf der Kunst der Moderation, der Facilitation. Ich werde nicht im Detail darauf eingehen, da bereits genügend Literatur und Wissen dazu zu finden ist. Vielmehr ein einstimmiger Reminder von allen Interview-Partnern: Wir sollten diese Lösungen in der digitalen Welt nicht wieder aus dem Fenster werfen und in alte Muster zurückfallen, nur weil sich die Rahmenbedingungen ändern.

Man kann in der digitalen Welt extrem effizient arbeiten — wenn man es richtig anstellt.— Jose Piening, Leiterin HR, Matterhorn Gotthard Bahn.

Ganz konkret sind das Moderations-Tricks wie beispielsweise:

  • Meetings vorbereiten und lediglich als Entscheid- und nicht als Diskussions-Vehikel zu betrachten.
  • Ein neutraler Moderator, der durch das Meeting führt und die Teilnehmenden an die Spielregeln erinnert (bspw. keine Meinungen über Dinge, die dich oder deine Rolle nicht direkt betreffen).
  • Personen nicht im Plenum sondern in Gruppen diskutieren lassen und dann lediglich die Ergebnisse im Plenum zusammentragen (bspw. Mit der Break-out Funktion von Zoom).
  • Visuell arbeiten in Echtzeit — beispielsweise mit Tools wie Miro und Mural. So können auch konzeptionelle Arbeiten remote extrem gut gelingen.
  • etc.

Tipps fürs facilitieren von Meetings und Workshops gibt es bereits Heute zuhauf. Das Konzept der Agilität ist nicht neu und den meisten unter uns bestens bekannt. Der Appell gilt also eher den Personen, die nun wieder in alte Gewohnheiten zurückfallen. Als Leader ist man dafür verantwortlich, dass das Team auch digital genug agil aufgestellt ist, um diese Krise zu überwinden. Es gilt also die Mannschaft so rudern zu lassen, dass wir möglichst effizient und mit wenig Energieverlust den Sturm verlassen können.

Fazit

Wir müssen als Leaders unsere verschiedenen Rollen als Steuerfrau/-mann, Pressesprecher oder Moderatoren aktiver wahrnehmen. Um erfolgreich durch diese digitale Zeit führen zu können, müssen wir:

1. Unser Team auf neue Ziele ausrichten, Arbeiten Re-priorisieren und mit neuen Team-Gefässen, Fokus schaffen.
2. Ehrlich über unsere Lage und die Auswirkungen für jeden einzelnen kommunizieren und ein gemeinsames Verständnis für die weiteren Schritte schaffen.
3. Den Mensch stärker in den Fokus stellen. Die aktuelle Situation hat einen individuellen Veränderungsprozess für jeden Einzelnen ausgelöst. Dem bewusst Raum zu geben, ist entscheidend.
4. Agilität sicherstellen, indem wir nicht in alte Entscheid- und Führungsmuster zurückfallen und unser Team aktiv moderieren.

Die Frage stellt sich nun: Machen wir weiter wie bisher und laufen Gefahr mit unserem Boot zu stranden oder sind wir mutig genug, um dem Sturm ins Auge zu blicken?

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Ich möchte mich bei den mutigen Seefrauen/-männer bedanken, die mit mir ihr Wissen geteilt haben. Vielen Dank! Ich durfte extrem viel von euch lernen.

  • Hannes Burkhalter, Senior Partner, INNOArchitects AG
  • Jose Piening, Leiterin HR & Mitglied der Geschäftsleitung, Matterhorn Gotthard Bahn
  • Daniel Ledermann, Senior Partner, INNOArchitects AG
  • Kevin Bucher, Leiter Innovationsmanagement, PostLogistics & Gründer Flizzer GmbH.
    - viele kleine Gesprächen mit unzähligen Mitarbeitern/Kunden/inspirierenden Menschen. Danke!